Interpretation Volkswille – eine exakte Wissenschaft?

Mo 12.01.15

Der Volkswille sei endgültig und absolut umzusetzen, heisst es von verschiedenen Seiten in der Politik. Wie in keinem anderen Land sind wir – das Schweizervolk – auch der Staat: Wir bestimmen und bezahlen ziemlich direkt, was uns umgibt. Kein Despot verprasst unser Geld für seinen Egotrip, keine alleinherrschende Partei bestimmt, was richtig oder falsch wäre. Wir dürfen darüber abstimmen, ob neue Schulhäuser gebaut oder Pflegeheime saniert werden sollen. Eine klare Sache, sollte man meinen.

Leider sind nicht bei allen Abstimmungen die Sachverhalte so glasklar wie beim Adlergarten oder beim Schulhaus Neuhegi. Die Konsequenzen bei Initiativen können mitunter schwer – oder teilweise gar nicht – prognostiziert werden. Beispiele gibt es dazu auf allen Stufen: Die Masseneinwanderungsinitiative auf Bundesebene, die Kulturlandinitiative im Kanton Zürich oder WINERGIE 2050 in Winterthur. Gemeinsam ist allen drei, dass die Mehrheit der Bevölkerung diesen Initiativen zugestimmt hat. Die Umsetzung dieser neuen Verfassungstexte bereitet aber den zuständigen Gremien einiges Kopfzerbrechen.

Was priorisieren?

Weil sich erst bei der Umsetzung zeigt, wie gravierend die Konsequenzen sein können, stellt sich erst dann die Frage: War dies wirklich der Willen des Volkes? Zwei Beispiele aus Winterthur sollen dies beleuchten: Die Winterthurerinnen und Winterthurer haben am 25.11.2012 für eine Erhöhung des Mindestbestands an vereidigten Stadtpolizistinnen und -polizisten votiert. Um sie unterzubringen, bräuchten wir eigentlich ein neues Polizeigebäude und mehr Geld, um deren Einkommen zahlen zu können.

Heisst das deutliche Ja zu mehr Polizeipersonal automatisch, dass der Steuerfuss so angehoben werden soll, damit der grössere Lohnaufwand beglichen werden kann? Heisst es auch, dass wir einige Millionen in die Planung des neuen Polizeigebäudes investieren und erst bei einem guten Projekt den Ausführungskredit durch das Volk bewilligen lassen sollen? Schliesslich war 2012 noch nicht so klar, wie leer unsere Stadtkasse 2015 sein wird. Die Mehrheit des Winterthurer Parlaments hat diesen Volksentscheid dahingehend interpretiert, dass auf keinen Fall mehr Steuern bezahlt werden sollen, sondern das nötige Geld an anderen Orten eingespart werden muss: Zum Beispiel soll die 4. Etappe des Eulachparks weiter aufgeschoben werden – im Bewusstsein, dass dieser in Zukunft sicher nicht billiger gebaut werden kann.

Gewinner und Verlierer

Die Winterthurer Bevölkerung hat am 27.11.2005 ebenfalls sehr deutlich ja gesagt zum Bau des Eulachparks in Oberwinterthur – mit klar kommunizierten Kostenfolgen übrigens. Das Hinausschieben, bereits zum zweiten Mal, kommt damit eigentlich einer Missachtung des Volksentscheids gleich. Gewinner sind die Vielverdienenden und gut gehenden Firmen, Verlierer sind Nutzerinnen und Nutzer des Eulachparks; in diesem Fall im Speziellen die Skatenden, für die es in der vierten und letzten Etappe eine entsprechende Einrichtung gegeben hätte – als versprochener Ersatz für die zurückgebaute Anlage in Töss.

Dass uns die ZHAW zum 750-Jahr-Jubiläum eine Brücke im Wert von rund einer halben Million geschenkt hätte, zeigt einmal mehr: Sparen heisst nicht, langfristig weniger Geld ausgeben. Wird die 4. Etappe später doch noch gebaut, werden wir – das Volk – die Brücke selbst berappen müssen. Ich bin versucht zu meinen, dass wir damit alle auf der Verliererseite stehen. Sie merken schon: Von einer exakten Wissenschaft ist die Interpretation des Volkswillens weit entfernt.

Bald sind Kantonsratswahlen – vielleicht erkennen Sie neue Perspektiven für den Wahlzettel am 12. April 2015?

 

Winterthurer Stadtanzeiger, grünpunkt, 14.11.2015, von Jürg Altwegg, Kantons- und Gemeinderat Winterthur