Ohne Konsumzwang
Wir leben über unsere Verhältnisse. Doch es ginge auch anders. Wie unsere Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum funktionieren könnte, war das Thema einer Tagung in Winterthur.
Man stelle sich vor: Wir würden künftig nur noch 20 Stunden in der Woche arbeiten. Den Rest unserer Zeit verbringen wir damit, in unserem Garten Gemüse zu ziehen und unsere Kleider, Velos und Haushaltgeräte selber zu flicken. Wir treffen uns regelmässig in Repair-Cafés, wo wir beim gemütlichen Austausch gegenseitig von unseren Handfertigkeiten profitieren: Jemand weiss, wie man einen Computer wartet, jemand anders kann Socken stopfen, und eine dritte Person steuert einen selber gebackenen Kuchen bei. So sparen wir Geld. Denn indem wir weniger Erwerbsarbeit verrichten, erhalten wir weniger Lohn. Wir kaufen weniger und schonen damit die Umwelt. Dafür organisieren wir uns in Tauschkreisen, wo ohne Geld oder mit regionaler, zinsloser Währung Produkte und Dienstleistungen gehandelt werden. So können lange Transportwege vermieden werden. Zudem teilen wir viele Geräte, die man nicht jeden Tag braucht, mit anderen Personen. Bohrmaschine, Schneeschuhe oder Säge leiht man sich in der Nachbarschaft aus und stellt im Gegenzug Nähmaschine und Leiter zur Verfügung.
Flicken statt wegwerfen
So das Zukunftsszenario, das Wachstumskritiker Niko Paech an einem Vortrag in der alten Kaserne in Winterthur vorstellte. Gegen 150 Personen befassten sich einen Nachmittag lang damit, wie eine Wirtschaft ohne Wachstumszwang funktionieren könnte. «Unser Wohlstand beruht auf einer weltumspannenden Plünderung», machte der deutsche Wirtschaftsprofessor deutlich. «Wir sind für die Armut andernorts verantwortlich.» Als dringlichstes Problem, das es zu lösen gebe, nannte Paech die Klimaerwärmung. Staaten wie Deutschland und die Schweiz müssten ihren Energiekonsum nicht nur auf erneuerbare Träger umstellen, sondern radikal vermindern, um nicht auf Kosten anderer Menschen und kommender Generationen zu leben. Und auch die Rohstoffe dürften nur so genutzt werden, dass sie nicht ausgebeutet werden. Sie sollten noch konsequenter rezykliert werden. Unternehmen müssten Produkte herstellen, die langlebig sind und repariert werden können. Weil die Menschen weniger Geld haben und weniger kaufen, würden Firmen automatisch zu einer Änderung ihres Konzepts gezwungen. Statt Computer zu entwerfen, die nach drei bis fünf Jahren am Ende sind, sollen sie Ersatzteile anbieten, Updates sowie Workshops, in denen Kunden lernen, die Geräte zu warten und zu reparieren. Statt lediglich immer mehr zu produzieren, können Firmen auch zu Vermittlern werden; so gibt es heute bereits Autokonzerne, die auf den Trend des Carsharing aufgesprungen sind und das Geschäft gleich selber in die Hand genommen haben.
Konsumenten sollten mehr Informationen über die Umweltverträglichkeit von Gütern zur Verfügung stehen, damit sie ihren Kaufentscheid bewusst treffen können – Stichwort Transparenz. Und schliesslich sollen Unternehmen demokratisch geführt werden, zum Beispiel nach dem Genossenschaftsprinzip. Solche Firmen werden sich die Zufriedenheit der Arbeitnehmer und Kunden zum Ziel setzen, statt den Gewinn ins Zentrum zu stellen. «Unternehmen sollen Teil der Lösung werden, statt wie heute Teil des Problems zu sein», forderte der Referent.
Einen Ansatz, der bereits existiert, nannte der Nationalrat der Grünen, Balthasar Glättli, am Beispiel der Firma Xerox: Indem sie ihre Kopiergeräte vermietet, statt sie zu verkaufen, ist sie nicht daran interessiert, dass sie möglichst schnell kaputtgehen, sondern dass sie so lange wie möglich funktionieren.
Mit weniger zufrieden
Der Journalist und Buchautor Hanspeter Guggenbühl wies darauf hin, dass das heutige Wirtschaftswachstum auf Verschuldung beruht. Für unseren übertriebenen Wohlstand müssten unsere Nachkommen bezahlen. «Doch nicht zuletzt die Gewerkschaften fürchten wirtschaftliche Stagnation – geschweige denn Schrumpfung – wie der Teufel das Weihwasser.» Absurderweise werde das Wachstum heutzutage nicht mehr mit benötigten Gütern begründet, stimmte ihm Paech zu. «Die 40-Stunden-Woche will genährt sein. Durch Wachstum sollen Arbeitslosigkeit verhindert und soziale Gerechtigkeit gewährleistet werden.» Ein gesellschaftlicher Umbau wäre auch sozial verträglich, war sich der scharfzüngige Ökonom sicher: Handwerkliche Fähigkeiten würden aufgewertet, während in der derzeitigen «Bildungsdiktatur» Menschen mit nicht-intellektuellen Stärken ausgegrenzt werden.
Doch mit einer sinkenden Wirtschaftsleistung würden auch für den Staat viel weniger Gelder anfallen. Wie soll er seine zahlreichen sinnvollen Aufgaben wahrnehmen – zum Beispiel die Bildung? Paech geht davon aus, dass der Staat mit seinem Modell viel Geld sparen könnte. Durch die Umverteilung der Arbeit soll ein grosser Teil der Arbeitslosen- und Sozialhilfegelder obsolet werden. Sparen könnte er zudem bei den Subventionen, die er heute zur Aufrechterhaltung des Wachstumsregimes ausgibt.
Ein wichtiger Aspekt ist für Paech die psychische Gesundheit. Bereits heute würden immer mehr Unternehmen dazu gezwungen, flexible Arbeitszeitmodelle anzubieten, weil ihre Mitarbeitenden wegen Burn-out-Zuständen unproduktiv werden. Er plädierte deshalb für die Befreiung von Überfluss und «Wohlstandsschrott», weil jede Konsumhandlung Zeit kostet. «Wir sitzen in der Beschleunigungsfalle.» Statt mit Autos, Eigenheimen, neusten elektronischen Geräten und weiten Ferienreisen zu bluffen, soll der zukünftige Mensch entspannt sagen können: «Ich brauche es nicht.»
Landbote vom 5.11.2014, Andrea Söldi