Warum es bei der Durchsetzung nicht um Ausschaffungen geht

Di 16.02.16

Die SVP-Initiative wirbt mit Ausschaffung. Meiner Meinung nach geht es der SVP um etwas ganz anderes. Ein Erklärungsversuch.

Gehen wir etwas zurück in die Zeit des Mittelalters. Es gab schon damals eine Art von „Recht“. Es gab einen Chef, der hat entschieden. Den Chef nannte man König oder Kaiser, heute nennt man so jemanden Diktator. Es war der Chef der entschied, was richtig und was falsch ist. Es war der Chef, der das auch durchsetzte und Leute verhaftete, die sich „falsch“ verhalten. Und dann wurde geköpft oder eben nicht. Das mit dem Recht war also durchaus Glücksache. Hatte der Chef einen schlechten Tag, ... tja Pech.

Heute bezeichnen wir diese Form von Recht als willkürlich und undemokratisch. Darum haben wir in der Schweiz und in den umliegenden Ländern das eingeführt, was wir heute Rechtstaat nennen. Man sagte sich: Es kann nicht sein, dass einer allein alles entscheidet. Man begann die Macht aufzuteilen. Das Parlament sollte das Recht schreiben (was ist „richtig“ und was „falsch“). Die Regierung sollte das Recht umsetzen (zum Beispiel denjenigen verhaften der sich „falsch“ verhalten hat). Eine dritte Stelle sollte letztendlich entscheiden, wenn man sich nicht einig ist: das Gericht. Das ist das Prinzip der Gewaltenteilung. Ebenfalls entschloss man sich, dass die Bevölkerung entscheiden soll, wer im Parlament, wer in der Regierung und wer in den Gerichten sitzt.

Damit der Staat gut funktioniert, reicht das aber noch nicht. Es braucht noch grundsätzliche Prinzipien, wie der Staat handeln soll. Dazu gibt es die Verfassung. Da steht beispielsweise drin, dass alle Menschen, die gleichen Rechte haben (Rechtsgleichheit). Wie wichtig das ist, wurde vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst. Nie mehr soll es ein Recht geben, das für eine bestimmte Gruppe, beispielsweise für Juden, nicht gilt.

Ebenfalls soll der Staat verhältnismässig handeln. Das heisst, der Staat soll den Buchstaben nicht blind anwenden, sondern die Verhältnisse berücksichtigen. Beispielsweise wäre es nicht verhältnismässig jemanden mehrere Tage in Untersuchungshaft zu stecken, wegen eine leichten Geschwindigkeitsüberschreitung.

Diese Prinzipien (Rechtsgleichheit, Verhältnissmässigkeit, Gewaltenteilung) nennen wir Rechtsstaatlichkeit. Es sind diese Prinzipien, die die Schweiz ausmachen. Die SVP-Initiative verletzt alle diese Prinzipien. Und darum betrachte ich die Initiative als gefährlich. Plötzlich werden die Prinzipien, die wir uns selber gegeben haben, heftig verletzt.

So soll jemand ausgeschafft werden, wenn er oder sie ein AHV-Formular falsch ausgefüllt hat. Das wäre nicht verhältnismässig. Auch die Rechtsgleichheit wird verletzt. Machen zwei Jugendliche einen Blödsinn und klauen am Kiosk ein Schoggi-Stängeli als Mutprobe, dann kriegt der Schweizer eine Busse und der Ausländer kriegt eine Busse und wird ausgeschafft, obwohl er in der Schweiz aufgewachsen ist. Zwei, die das Gleiche gemacht haben, werden ganz unterschiedlich behandelt. Das ist Willkür. Zudem sollen Richter nicht mehr entscheiden können, denn die Initiative sieht einen Automatismus vor. Die Liste der Probleme ist noch viel länger, als auf diesem Text Platz hätte.

Meiner Meinung nach geht es der SVP nicht wirklich um Ausschaffungen. Es geht um Macht und Einfluss. Sie möchte ihre Werte über richtig und falsch knallhart durchsetzen. Sie alleine wollen mit ihrer Initiative bestimmen. Die Verhältnismässigkeit und die Richter stehen ihr dabei bloss im Weg.

Lassen Sie sich von der sogenannten Durchsetzungsinitiative nicht verführen und stimmen sie am 28. Februar Nein.

Winterthur, 16.02.2016, Martin Neukom, Kantonsrat Grüne Winterthur